„Ab und an rattert ein Pferdefuhrwerk vorbei.“ – Moldova-Klischees in deutschen Medienberichten

„Ich hab einen Podcast über Moldova gefunden. Sollen wir uns den anhören?“ fragte neulich abends Daniel. Ich antwortete skeptisch, dass ich es für unwahrscheinlich halte, dass darin irgendetwas gesagt würde, das für mich neu sei. Deutsche Medienberichte über die Republik Moldau, wie es in Diplomatendeutsch heißt, ähneln einander stets sehr – und reproduzieren die immer gleichen Klischees. „Ich kann dir zehn Stichworte sagen, die in jedem Fall drin vorkommen,“ tönte ich. „Ich höre,“ sagte er und hatte bereits Zettel und Stift in der Hand.

Podcast

Ich nannte die folgenden Stichworte:

  1. „In Transnistrien besteht die Sowjetunion weiterhin.“ (Im schlimmsten Fall: in Transnistrien kann man heute noch sehen, wie es in der Sowjetunion war.) CHECK
  2. Pferdekarren CHECK
  3. Größter Weinkeller Europas
  4. Lenindenkmäler CHECK
  5. „Moldova ist zerrissen zwischen Europa und Russland.“ SUPERCHECK
  6. Irgendwas über den April 2009
  7. Irgendwas über Gagauzien und seine Hauptstadt Komrat und dass dort eine Leninstatue vor dem Parlament steht
  8. „Children left behind.“
  9. Ärmster Staat Europas CHECK
  10. Selbstgebrannter fast check

Meine Ausbeute im SWR2-Wissen Podcast von Maya Kristin Schönfelder vom 12.1.2016 war schließlich mit fünf Treffern mäßig. Zwar wurde aus Mileşti Mici berichtet, aber ohne zu erwähnen, dass hier der zweitgrößte Weinkeller Moldovas liegt. Am Selbstgebrannten schrabbte die Reportage mit „hausgemachtem Wein“ nur knapp vorbei und verkaufte den gleich auch als Tradition: „Bürgermeister xy empfängt Besucher nach Landessitte mit Wurstbroten, Bonbons und hausgemachtem Wein.“
Das „ärmste Land Europas“ wird genannt, jedoch als O-Ton der moldauischen Journalistin und Übersetzerin Mila, die dies gerade als Klischee benennt: „Moldau, das ärmste Land Europas, das Armenhaus Europas. Viele Leute erinnern sich an Korruption oder Prostitution, Menschenhandel. Die Leute erinnern sich nur an schlechte Sachen. Ich würde mir wünschen, dass die Leute mehr nach Moldau reisen und mehr über Moldau erzählen.“

Einen Extrapunkt bekomme ich aber dafür, dass der Pferdekarren, der obligatorisch in jeder Fernsehreportage über Moldova mindestens einmal durchs Bild fährt, selbst in einem Audio-Bericht untergebracht wurde: „Hinter buntlackierten Metallzäunen ducken sich einfache gemauerte Häuser und Karten aus Holz. Ab und an rattert ein Pferdefuhrwerk vorbei.“

Beim Hören schlug ich mir bei einigen Stichwörtern vor den Kopf, dass sie mir beim Aufsetzen der Liste durch die Lappen gegangen waren:

  • Flaniermeile Bulevard Stefan cel Mare
  • Nationalheld Stefan cel Mare
  • Reisigbesen („Eine Putzkolonne schwingt konzentriert die Reisigbesen. Dabei ist kein Stückchen Papier auf der Straße zu sehen.“)
  • Schokoladenfabrik Bucuria
  • Obstgarten der Sowjetunion
  • Bazar! – „Der Markt leuchtet bunt wie ein orientalischer Bazar.“ Eines meiner Lieblingsklischees nicht nur in Berichten über Moldova – östlich und südöstlich der deutschen Außengrenzen sind eben Märkte keine Märkte mehr, sondern Bazare und das Ambiente „orientalisch“. Was anscheinend auch heißt: üblicher Weise schmutzig. Jedoch: „die Verkaufstresen sind so sauber wie in der Schweiz.“
  • Migration und Remittances („ein Viertel der Einwohner arbeitet im Ausland. Ohne die Transferleistungen ihrer Verwandten müssten die Menschen Hunger leiden.“)
  • Oberklassewagen aus deutscher Produktion, die die Straßen in Chişinău verstopfen
  • Hochburg der organisierten Kriminalität
  • Vorbild Maidan (bzw. Ukraine-Parallelen im Allgemeinen)
  • Rumänische Pässe („Rumänien verteilt aktuell Pässe an alle, deren Eltern oder Großeltern zwischen 1918und 1940 auf rumänischen Staatsgebiet gelebt haben.“ Pässen werden jedoch auch in Rumänien nicht verteilt, wie Luftballons bei einer Möbelhauseröffnung, sondern sie können beantragt werden.)
  • Deutschsprachiger Stadtführer Andrei Smolenski in Tiraspol
  • Und tatsächlich einmal: Schisinau (gemeint ist die Hauptstadt Chişinău, gesprochen Kischinäu. Und der populärste Einwand sei gleich widerlegt: „Schisinau“ ist nicht der deutsche Name von Chişinău, sondern schlichtweg Unkenntnis, die jeder*m Rumänisch-unbeleckten Kartoffel gern verziehen sei – aber von jemandem, der/die O-Töne für eine Radioreportage übersetzt, könnte doch erwartet werden, dass die Person sich zuvor informiert, wie die Hauptstadt ausgesprochen wird. Oder auch, wenn ich Flugzeugdestinationen für eine automatische Durchsage am zweitgrößten (?) Flughafen Europas einspreche. Die Lautsprecherdurchsagen in Frankfurt am Main rufen munter Passagiere für einen Flug nach Schisinau auf.)

Das erste Häkchen brachte schon der Titel des Podcasts „Die Republik Moldau – zerrissen zwischen Ost und West?“. Dieser Titel ist nicht nur bemerkenswert, weil er eines der gängigsten Medienbilder über die Republik Moldau reproduziert, sondern auch, weil der Podcast mit einem deutschen O-Ton der jungen moldauischen Übersetzerin und Journalistin Mila beginnt, die sagt: „Ich denke, dass Moldau eine gute geographische Lage hat, zwischen Osten und Westen. Man soll denken, das ist eine Stelle, von der man profitieren kann und nicht nur sagen, die Gesellschaft ist zerrissen.“ Aber die Sendung muss anscheinend dennoch – (zer)reißerisch – so genannt werden.

Und das Motiv der Zerrissenheit gibt dann auch die Marschroute für den 28-Minuten-Beitrag von Beginn an vor: „In der Mitte Europas leben etwa dreieinhalb Millionen Menschen in einer geteilten Heimat. Zwischen Rumänien und der Ukraine liegt die Republik Moldau, in Deutschland besser bekannt als Moldawien. Das Land existiert erst seit dem Zerfall der Sowjetunion und strebt in die EU. Seine abtrünnige Provinz Transnistrien jedoch wird von Russland politisch und wirtschaftlich gestützt.“

Schönfelder stellt an den Anfang ihres Beitrags die Frage „Wie lebt es sich an der Schnittstelle zwischen Ost und West?“ Dass diese vorhanden und für die moldauische Gesellschaft bestimmend ist, wird damit von Anfang an (voraus-)gesetzt und nicht hinterfragt. Sie wird im weiteren Verlauf beschrieben, aber nie als solche selbst bestimmt. Wie soll so eine Schnittstelle in der Wirklichkeit aussehen? Der moldauische Lebensalltag (und keineswegs nur derjenige in Transnistrien) ist geprägt von Verbindungen und Kontakten zur Russischen Föderation. Sie ist das häufigste Ziel der quantitativ bedeutenden moldauischen Migration – mehrere hunderttausend Moldauer*innen haben bereits in Moskau oder St. Petersburg gelebt und gearbeitet. Russische Medien werden in Moldova konsumiert und sind beliebt (nicht nur bei der russischsprachigen Bevölkerung!), Kinofilme werden (unter anderem) in russischer Sprache ausgestrahlt und ein Großteil der Moldauer*innen hat einen Account nicht (nur) bei Facebook, sondern beim russischen Pendant Odnoklassniki.
Dies ist eben nicht in erster Linie ein “Einfluss Russlands” oder eine Entscheidung gegen “den Westen”, sondern erst einmal Teil der moldauischen Gesellschaft.

Illustritert wird die Zerrissenheit in der Reportage durch griffige Gegensätze. „Elektronische Anzeigetafeln werden für Mobilfunktarife und CocaCola. Dahinter leuchten Hammer und Sichel von einem Plakat. Wahlwerbung der kommunistischen Partei.“ Coca-Cola ist eben nicht in erster Linie ein Symbol für den Westen, sondern ein Erfrischungsgetränk, Hammer und Sichel nicht in erster Linie ein Symbol für den Osten, sondern für den Kommunismus und als solches durchaus auch in westlichen Ländern zu finden. Und nicht nur gibt es beides in vermutlich den allermeisten Gesellschaften dieser Welt, sondern sogar Cola-trinkende Kommunist*innen (die deswegen nicht innerlich zerrissen sind). Aber die Klischee-geschulte Zuhörerin versteht: hier prallen Welten aufeinander.
Der „Westen“ als Hort qualitativ hochwertiger Produkte und entsprechend hoher Ansprüche seiner Bewohner*innen vs. Schlechtes gewohnte Ex-Sowjetbürger*innen: „Namen (der Pralinen aus der Bucuria-Fabrik), die seit Sowjetzeiten allen hier vertraut sind. Doch die Qualität überzeugt auch westliche Gaumen.“ Offenbar keine Selbstverständlichkeit.
Wenn der nationalistische (und im Mai 2017 wegen Korruptionsverdacht festgenommene) Bürgermeister Dorin Chirtoacă zitiert wird, der in die EU strebe, wird dies mit der „Befreiung vom russischen Joch“ gleichgesetzt (und in seiner rumänistischen Ideologie ist das auch durchaus so).

Zum Argumentieren und Beschreiben mit Gegensätzen gehört, dass EU („der Westen“ – der EU-Kommissar sei der wichtigste Vertreter des Westens in Moldova) und Russland inkompatibel sind – Freund*in-Feind*in-Schema, mit uns oder gegen uns, auch das versteht die Zuhörerin sofort – gute Beziehungen mit Russland und der EU gleichzeitig (oder mit keinem von beiden), das geht nicht.
Der Beitrag macht aber nicht das zum Thema – dass Interessenkonflikte zwischen EU-Ländern bzw. ihren Regierungen und der Regierung der Russischen Föderation dafür verantwortlich sind, dass ein kleines Land wie Moldova ständig zu einer definitiven und einseitigen Entscheidung genötigt werden soll, an der es selbst überhaupt kein Interesse haben kann, weil es Beziehungen in beide Richtungen hat und die auch braucht. Die Hörerin versteht: Moldova muss sich entscheiden! Die Frage ist nur, wies am Ende ausgeht…
Das Assoziierungsabkommen von Sommer 2014? Ein Punkt für die EU!
„Mit der östlichen Partnerschaft seit Mai 2009 soll Moldova näher an die EU geführt werden und ein bisschen weiter weg von Russland.“
Dass dieses Abkommen nicht zufällig auf dem Höhepunkt der Ukraine-Krise kurz nach der Annexion der Krim durch Russland im März 2014 unterzeichnet wurde, nachdem die Republik Moldova wie auch die Ukraine z.B. in Visumsfragen und Zollfragen jahrelang hingehalten wurden, wird nicht erwähnt.
Aber: „In einem Klima aus Misstrauen und Enttäuschung gewinnen pro-russische Parteien an Zuspruch.“ Punkt für Russland!
Putin wünscht sich Moldova als Teil der eurasischen Union. „Dafür zieht der Kreml alle Register. Nach der Ratifizierung des EU-Assoziierungsabkommens meldete die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti, dass Gegner der EU-Annäherungen in Chişinău von nun an Strafverfahren zu erwarten hätten. Da die russischsprachige Bevölkerung in Moldova ausschließlich russische Medien nutzt, verfehlen solche Falschmeldungen ihre Wirkung nicht.“
Diese verschwörungs- oder manipulationstheoretisch anmutende Aussage ist schlichtweg falsch, da es russische Programme im moldauischen Fernsehen gibt, die durchaus zur Kenntnis genommen werden und in Bussen, Taxen, Geschäften, auf der Straße ständig lokale Radiosender laufen, die nicht selten Beiträge auf Russisch und Rumänisch/Moldauisch bringen.
Welches die nicht verfehlte Wirkung der Falschmeldungen war, bleibt dann auch nebulös.
Im historischen Überblick über die wechselnden Machtverhältnisse zwischen Pruth und Dnjestr heißt es: „später regierten abwechselnd Russen und Rumänen. Das ist der Grund, warum die Rumänen Moldawien gern an das eigene Staatsgebiet anschließen wollen.“ Auch dies stimmt nicht, weil es zwar durchaus rechte Kräfte auf beiden Seiten des Pruths gibt, die sich eine Vereinigung Moldovas und Rumäniens wünschen, dies aber auf keiner der beiden irgendwie eine Mehrheitsmeinung, geschweige denn Konsens wäre (z.B. tragen “Basarabia e România”-Graffitis zwischen Bukarest und Soroca erkennbar überall die gleiche Handschrift).

Als staatifizierter Kontrast zum Westen dient Transnistrien in fast allen Berichten:
Es handelt sich um ein „Freiluftmusuem der Sowjetunion“. Warum? „Standbilder und Büsten von Vladimir Ilitsch Lenin sind überall zu sehen.“ Die Sowjetunion war wohl etwas mehr als Lenin-Büsten…
Der egal wo stets mühselige und demütigende Grenzübertritt mit seinen Kontrollen wird zu einem Alleinstellungsmerkmal transnistrischer (oder sowjetischer?) Willkür: „Die Einreise nach Transnistrien gestaltet sich schwierig. Wie lange man warten muss, ob ein Auto durchsucht wird, ob alle Insassen eines Busses aussteigen müssen, alles hängt von der Tageslaune am Checkpoint ab.“
Flohmarkt-betreibende Rentner*innen in der Innenstadt dienen als Symbol der Rückständigkeit Transnistriens, auch im Vergleich zu Moldova – wo es ebenfalls etliche kleinere und größere Flohmärkte auf den Bürgersteigen der Stadt gibt. „In einem Park bieten Rentner Kochtöpfe, selbstgestrickte Strümpfe, zerschlissene Wintermäntel und Puschkins gesammelte Werke zum Kauf. Das Leben in Tiraspol ist hart, vor allem seit Russland mit eigenen wirtschaftlichen Problemen kämpft und in der Ukraine Separatisten unterstützt.“
Östliches Tiraspol und westlicheres Chişinău – ein Kontrast wie Tag und Nacht: „Die Nacht in Tiraspol ist stockfinster. Ab 20 Uhr gehen in der Stadt aus Kostengründen die Lichter aus.“ Demgegenüber: „Auf der anderen Seite des Dnjestrs wirkt die Innenstadt von Chişinău wie in Flutlicht getaucht. Boutiquen und Restaurants buhlen mit Leuchtreklamen um Kundschaft. Junge Leute in globalisiertem H&M-Schick läuten das Wochenende ein.“

Milas Wunsch, die Leute mögen mehr in die Moldau reisen, um sich von Negativ-Klischees zu befreien und mehr über Moldova berichten, erfüllt sich leider nur bedingt: denn selbst wenn Leute nach Moldova fahren, erzählen sie hinterher altbekannte Klischees.

Leave a comment