Check die sprachliche Pluralität!

Zu meinem 36. Geburtstag vor wenigen Tagen habe ich Margarte Stokowskis „letzte(n) Tage des Patriarchats“ geschenkt bekommen von einem Grüppchen meiner Lieblingsfreund*innen, die es mir als sehr unterhaltsame Lektüre empfahlen. Ich kannte es noch nicht, hatte genau genommen sein Erscheinen noch nicht einmal zur Kenntnis genommen. Und auch aus dem zuvor erschienen Buch „Untenrum frei“ hatte ich nur einen Auszug gehört, den eine meiner Mitbewohnerinnen vorlas, als wir einer anderen Mitbewohnerin ein selbstgemachtes Hörbuch aufgenommen haben.

Es ist jedoch die Sorte Buch, die es in meiner Frauen-WG mehrmals gibt – so wie wirs geschafft haben, den wunderbaren „Ursprung der Welt“ von Liv Strömquist so oft geschenkt bekommen zu haben, dass wir in jedem Raum inklusive Bad ein Exemplar hatten, haben wir auch jetzt schon zwei Exemplare von „Die letzten Tage des Patriarchats“ (in Überschätzung der Unendlichkeit von Exemplaren des „Ursprungs der Welt“ haben wir es übrigens geschafft, alle Exemplare außer meins, das eine Widmung hat und deswegen safe ist, weiterzuverschenken).

Ich bin jetzt auf Seite 31 (also noch nicht ganz auf den „letzten Seiten des Buchs“), habe also das Vorwort plus 4 Texte gelesen und stolperte gleich über den zweiten, welcher den Titel „Die Liebe und der Sechs“ trägt. Ich ahnte auch gleich, was sich unter dem Titel entspannen würde, denn ja, auch ich kenne Menschen, die das Wort „Sex“, wie die Zahl „sechs“ [zɛks] aussprechen, also mit einem stimmhaften und nicht mit einem stimmlosen s und natürlich ist es auch mir schon so ergangen, dass mein Ohr gewissermaßen darüber gestolpert ist. Und das gar nicht unbedingt in Hessen, obwohl ich genau dort (als Zugezogene) seit vielen Jahren wohne.

Ich erinnere mich auch, dass genau dieses [zɛks] ein Dauergag eines Schulfreundes und mir war – wir verwendeten eine zeitlang einfach “sieben” als alias für Sex. Ich denke, im Falle des Wortes „Sex“, setzt sich eine ungewohnte Aussprache besonders im Ohr fest, weil sie noch mehr Aufmerksamkeit auf ein Thema lenkt, das ohnehin gleichzeitig teilweise gesellschaftlich tabuisiert ist und unter Garantie Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Und genau darum geht es dann auch: Stokowski berichtet von einem Gespräch mit ihrem hessischen Kumpel Lukas, der eben auch [zɛks] sagt. Stokowski stolpert nicht nur darüber, sondern fragt ihn auch suggestiv, ob er das nicht komisch fände (ergo: SIE findet es komisch). Als er dies verneint, wird es nicht dabei belassen, sondern Stokowski sagt ihm, dass sie „es total unerotisch“ findet, wie er „Sex“ sagt. Und sie beharrt auch noch darauf, als Lukas erstens erklärt, dass er bereits in logopädischer Behandlung war (ergo: seine Aussprache wurde schon in anderen Kontexten als falsch, unnormal oder non-konform gelabelt) und zweitens „ja wohl ganz normal und eine regionale Besonderheit“ sei. Sie rudert ein bisschen zurück und schiebt den Versuch einer Entschuldigung hinterher, in der u.a. vorkommt, dass sie „das ja nicht insgesamt auf seine Person beziehen würde.“ Sie will sich nicht mit Lukas verkrachen, aber ihren Kommentar verteidigt sie trotzdem. Kein Wunder, dass Lukas beleidigt ist.

Dies ist ein wundervolles (und vermutlich relativ harmloses) Beispiel für eine Diskriminierung auf Grund von Sprache oder Sprechen – der französische Sprachwissenschaftler Philippe Blanchet hat dafür den Begriff der „Glottophobie“ geprägt, kanadische Sprachwissenschaftler*innen vor ihm den Begriff „Linguicismus“. Gemeint ist damit die Geringschätzung, der Hass, die Ablehnung oder der Ausschluss von Personen durch eine Diskriminierung, die darauf beruht, dass die sprachlichen Formen, die diese Person benutzt, als inkorrekt, minderwertig oder schlecht beurteilt werden. Dies betrifft einerseits Personen, die eine andere Sprache als diejenige sprechen, die in einem bestimmten Kontext dominant ist, oder die eben eine regionale Varietät („Dialekt“) sprechen oder einen bestimmten Akzent haben.

Das Phänomen ist weit verbreitet, eine zentrale Dimension sozialer Ungleichheit – nicht per se wichtiger als andere, aber eben doch eine wichtige, da auf ihrer Basis häufig Personen implizit oder explizit die Legitimität ihrer Stimme abgesprochen wird. Und gleichzeitig ist Diskriminierung auf Grund von Sprache oder Sprachen als solche denkbar abwesend in progressiven Diskursen. Bestimmte Dialekte unerträglich, lächerlich (oder gar reaktionär) zu finden, ist z.B. ziemlich salonfähig, selbst unter Personen, die ansonsten ein vergleichsweise hohes Maß an Reflektiertheit und Diskriminierungssensibilität aufweisen. Und dies von anderen Leuten einfordern.

Im nächsten, dritten Text geht es um die Reaktion auf Sexszenen im Film „Blau ist eine warme Farbe“ von Durchschnittskinobesucher*innen (Geringschätzung, Hass, Ablehnung): „Ekel ist immer Angst. Vielleicht waren die Jugendlichen, die mit im Kino waren, gar nicht homophob, vielleicht hätten sie nur vorher üben sollen. Ganz langsam. Falls ihr das lest, ihr kleinen Nervbacken; Guckt mehr Lesbenpornos. Bitte. Nicht zwei, drei, guckt viele! Checkt die Pluralität! Kommt klar! (…) Gewöhnt euch an Lesben, weil: Es gibt sie. (…) Ihr werdet feststellen, dass das alles nicht so schlimm ist. Lesben, die Sex haben, sind nicht ekliger als andere Leute, die Sex haben.“

In diesem Sinne: Ekel ist immer Angst. Vielleicht ist Margarete Stokowski gar nicht glottophob, vielleicht hätte sie nur vorher üben sollen. Ganz langsam. Wenn du das liest: Hör dir mehr Dialekte an. Bitte. Nicht zwei, drei, hör dir viele an! Check die Pluralität! Komm klar! Gewöhn dich an Akzente, denn: es gibt sie! Du wirst feststellen, dass das alles nicht so schlimm ist. Hessen, die Sechs haben, sind nicht ekliger als Leute, die Sex haben.

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